Schon wieder ein Sterbehilfeurteil

Vier Jahre Haft für einen Kardiologen von der Charité

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Charité Campus Virchow-Klinikum in Berlin-Wedding
Charité Campus Virchow-Klinikum

Nur knapp drei Wochen nach der Verurteilung des Suizidhelfers Dr. Turowski ist ein Prozess um Sterbeverkürzung bei zwei schwerstkranken Intensivpatienten zu Ende gegangen. Am 26. April wurde der Herzmediziner und Charité-Oberarzt Dr. S. (56) ebenfalls zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. In beiden – durchaus unterschiedlichen – Fällen gingen die Richter von einem "minder schweren" Tötungsdelikt aus.

Die Verurteilung von Dr. Christoph Turowski (Allgemeinmediziner im Ruhestand) zu drei Jahren Haft am 8. April (sowie auch der Suizidhilfe-Prozess vom Januar gegen Dr. Johann F. Spittler) bezog sich einzig auf die entscheidende Frage: Fehlte – angesichts einer psychischen Erkrankung – die erforderliche Freiverantwortlichkeit bei der in den Tod begleiteten suizidwilligen Person? Diese hatte sich eigenhändig mittels ärztlich gelegter Thiopental-Infusion durch deren Aufdrehen selbst das Leben genommen. Es ging also nicht um Fremdtötung.

Um eine solche ging es hingegen im Prozess gegen den Kardiologen Dr. Gunther S., vormals Oberarzt an der Charité, mit mehr als 30 Zeugen und Sachverständigen, nämlich um die Bewertung: Hat eine überdosierte Verabreichung des Mittels Propofol (einem Narkosemittel wie Thiopental) bis zur Bewusstlosigkeit mit tödlicher Nebenwirkung bei seinen todkranken Herzpatienten eine aktive Sterbe-, das heißt verbotene Lebens(rest)verkürzung bewirkt? Und war es von ihm ganz bewusst so beabsichtigt? Dr. S. hat diese Vorwürfe im Prozess zurückgewiesen. Als Krankenhausarzt habe er zur Leidensminderung in ihm vorgeworfenen Fällen das Mittel zur Sedierung gespritzt. Das sei aber nicht in den Mengen erfolgt, wie sie in der Anklage aufgrund des entscheidenden Sachverständigen-Gutachtens genannt wurden.

Der Oberarzt der Kardiologie war im August 2022 von der Klinik freigestellt worden und gegen ihn kam ein Ermittlungsverfahren ins Rollen – nach einem bezüglich etlicher Ungereimtheiten zunächst anonymen Hinweis. Eingegangen war er von einer jungen Pflegerin im Whistleblower-System der Charité, von dieser installiert nach den dort vor Jahren begangenen Patientenmorden durch die Krankenschwester Irene B. Deren eigenmächtige Taten galten als verwerfliche Herrschaftsausübung über Leben und Tod bei hilflosen Patienten, auch wenn dabei – wie ebenfalls von Serientätern in anderen Häusern – angegeben wird, deren Leid in der Pflege einfach nicht mehr mit ansehen und aushalten zu können.

Womit hat Dr. S. palliativmedizinische Regeln überschritten?

Er sei sich sicher, "das Leben der Patienten nicht verkürzt zu haben", sagte der Mediziner vor Gericht. Vorzuwerfen habe er sich nur, in den angeklagten Fällen Propofol – welches nicht zur Schmerz- und Beschwerdebekämpfung, sondern nur zur Narkose eingesetzt wird – nicht dokumentiert zu haben.

Hinzugefügt werden sollte allerdings: Weder lag eine entsprechende Patienten- oder Notfallverfügung der nicht mehr ansprechbaren Patienten vor, noch wurden von Dr. S. ihre Angehörigen oder seine Stationskollegen einbezogen. Zwar könne es sein, wurde in der Urteilsbegründung eingeräumt, dass "ein Umschalten von einer kurativen auf eine palliative Behandlung" angezeigt gewesen sei. Das Narkosemittel Propofol sei aber in einer so hohen Menge mit voraussehbar tödlicher Wirkung verabreicht worden, die bei Weitem übersteige, was im Rahmen einer palliativmedizinischen Sedierung noch als legitim gilt. Die Beteuerung von Dr. S., den eh bevorstehenden Tod von zwei sehr schwer herzkranken 73-Jährigen ja gar nicht herbeigeführt und erst recht – auch indirekt – nicht intendiert zu haben, hielt das Gericht für eine Schutzbehauptung. "Wir sind überzeugt, dass es sich um eine gezielte Verkürzung des Lebens und damit eine Tötung handelte", sagte der Vorsitzende Richter Gregor Herb. Der Oberarzt der Berliner Charité habe wissentlich medizinisch geltende Regeln missachtet und eine strafrechtliche Grenze überschritten.

Die Verteidigerin Ria Halbritter hatte dagegen argumentiert, dass die sogenannte (aktive) indirekte Hilfe bei offenbar leidvollem Sterben im Ermessensspielraum des Arztes liege und das Gutachten der Anklage einseitig sei. Tatsächlich konnte laut Ärzteblatt noch im Mai 2023 die Staatsanwaltschaft nicht ausschließen, ob die hohe Dosierung von Propofol doch medizinisch vertretbar gewesen wäre. Erst nach Einschätzung des von der Ermittlungsbehörde beauftragten Gutachters sei dies zumindest in zwei von insgesamt vier untersuchten Todesfällen nicht der Fall gewesen, womit sich dann der dringende Tatverdacht ergeben habe.

Welche Strafen und Folgen bei Prozess um einen Todesfall?

Wie bei Turowski ging das Gericht – entgegen staatsanwaltschaftlicher Plädoyers für weit höhere Strafen – nach ausführlicher Beweisaufnahme zwar von einem Tötungsdelikt aus, allerdings vom minder schweren Fall eines sogenannten Totschlags. Es wies damit Mordmerkmale und die Forderung nach lebenslänglicher Haft zurück. Diese hatte der Staatsanwalt Martin Knispel gefordert mit der Persönlichkeitsbewertung: "Der Angeklagte wollte sein Ermessen durchsetzen, wann Leben noch lebenswert ist und wann nicht" – dabei bestehe bei ihm entsprechende Wiederholungsgefahr.

Zur Begründung des Urteils von vier Jahren Haft hieß es: Vieles spreche dafür, dass der Arzt "aus Mitleid und Zugewandtheit zu seinen Patienten" gehandelt habe. Eine "lebensfeindliche Haltung" mit verwerflichen Motiven, wie diese von Serientötungen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen durch sogenannte "Todesengel" bekannt sind, sehe das Gericht bei ihm nicht. Kolleginnen und Kollegen hatten den 56-Jährigen als einen erfahrenen, kompetenten und den Patienten zugewandten Menschen beschrieben.

Tatsächlich erscheinen vor allem empathische und engagierte Ärzte und Ärztinnen als anfällig für die Nichteinhaltung von verpflichtenden Regeln zugunsten einer auch tödlich wirkenden Leidvermeidung. Eine mangelnde Dokumentation kann ihnen als Verheimlichung oder gar Heimtücke angekreidet und zum Verhängnis werden. Erinnert sei hier an den tragischen Fall der Krebsärztin Dr. Mechthild Bach, die sich 2011 schließlich angesichts einer unendlichen Prozessdauer das Leben nahm, zermürbt und ruiniert von Untersuchungshaft, Existenzvernichtung, Approbationsentzug und Mordvorwürfen aufgrund von angeblich überdosierten Morphiumgaben für ihre sterbenden Patienten. Dabei spielte vor allem der Gutachter Prof. Michael Zenz eine unrühmliche Rolle, als er den Prozess quasi wie ein Chefankläger dominierte.

Warum wirkte Dr. S. beim Urteil erleichtert?

Auch den Antrag der Staatsanwaltschaft auf ein lebenslanges Berufsverbot von Dr. S. wies das Gericht zurück. Es sei davon auszugehen, sagte Richter Herb, dass der Arzt einsichtig sei und deshalb nie wieder so handeln würde. Allerdings liege ein unbezweifelbares Tötungsdelikt vor, welches folglich bestraft werden müsste. Ein minder schwerer Fall ist eine Zumessungsregel innerhalb der Tötungsdelikte im deutschen Strafrecht gemäß Paragraf 213, der einen reduzierten Strafrahmen ab einem Jahr bis zu zehn Jahren Haft vorsieht. Eine – in diesem Paragrafen zwar ungenannte – Bedingung der Mitleidstötung wäre nach verbreiteter Rechtsmeinung ebenfalls als minder schwer zu bewerten.

Im Fall von Dr. Turowski (das selbe gilt für Dr. Spittler) sowie von Dr. S. haben ihre Verteidiger auf Freispruch plädiert und nach Verurteilung ihrer Mandanten Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt. Bis zur erlangten Rechtskräftigkeit setzten beide Gerichte den Haftbefehl gegen die Angeklagten außer Vollzug. Dabei hatten Dr. Turowski am 8. April und Dr. S. am 26. April durchaus Grund, recht unterschiedlich auf ihre Urteile mit den mehrjährigen Haftstrafen zu reagieren. Dr. S. zeigte sich trotz des Schuldspruchs sichtlich erleichtert: Er war nämlich seit Mai 2023 in Untersuchungshaft und musste nun erst einmal nicht zurück ins Gefängnis, sondern durfte nach einem Jahr endlich nach Hause. Nun hat auch er sich zurzeit "lediglich" – wie zuvor bereits Dr. Turowski – bestimmten Meldepflichten bei der Polizei zu unterziehen, die mit dem nicht vollzogenen Haftbefehl verbunden sind.

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